Schräg

… ist, denke ich, der passende Ausdruck, wenn ich beschreiben möchte, wie ein Hersteller versucht, sich durch die Regeln für Medizinprodukte hindurchzumogeln. Also…
Medizinprodukte sind definiert. Das heißt, dass es genaue Festlegungen gibt, was ein konkretes Medizinprodukt ist und was es bezweckt bzw. wofür es bestimmt ist. Ein Kondom, zum Beispiel, ist in der internationalen Norm ISO 4074 für Latexkondome (Abschnitt 3.2) definiert als: medical device used by consumers, which is intended to cover and be retained on the penis during sexual activity, for purposes of contraception and prevention of sexually transmitted infections. Kurz, knapp und präzise.

Neben den „klassischen“ Kondomen (für Penisse) gibt es auch noch Kondome für die Vagina; definiert in der ISO-Norm 25841. Auch dort ist die Definition einfach (Abschnitt 3.1.5): Es handelt sich um ein sheath that completely lines the vaginal canal and is designed to be retained in the vagina during sexual intercourse and after withdrawal of the penis to prevent pregnancy and transmission of sexually transmitted infections.

Soweit alles klar? Gut. Eins kommt über den Penis, das andere gehört in die Vagina, und beides dient zum Schutz vor Infektionen und Empfängnis beim Geschlechtsverkehr. Für die bestimmungsgemäße Verwendung gibt es einerseits Anleitungen, wie diese Dinge benutzt werden sollen (das ist Vorschrift) und andererseits (dazu sind diese ISO-Normen da) Vorschriften für Hersteller und Prüfer, damit man sich darauf verlassen kann, das die Kondome auch tun, was sie sollen (vereinfacht gesagt). Als Nachweis gibt es dann (externe) Zertifikate und Konformitätserklärungen, die jeder in der Kette – vom Importeur bis zum letzten Händler – eigentlich prüfen und dokumentieren muss, was aber in der Praxis kaum jemand tut, je weiter hinten er in der Lieferkette steht, denn dazu kommt für jeden Gewerbetreibenden ja noch gefühlt eine Tonne Extra Bürokratie als icing on the cake, damit es niemandem langweilig wird; um die geht es jetzt zwar nicht, aber bei dem ganzen Wust an Vorschriften fallen die Dokumentations- und Prüfpflichten gerne mal hinten runter. Fragt mal den Kondomdealer Eures Vertrauens nach den Prüf- und Konformitätszertifikaten für Eure Kondome…

Jetzt kommt also ein Hersteller des Wegs und sagt sich: Hey, ich produziere ja schon erfolgreich Kondome (beider Sorten), und ich habe jetzt was Neues – ein Latextuch (dam), das kann man über die Genitalien legen und so auch Infektionen verhindern. Um das als Medizinprodukt auf den Markt zu bringen, brauche ich aber diese Zertifikate, sonst kauft mir das keiner ab. Für dams mit diesem Schutzzweck gibt es natürlich, wie könnte es anders sein, auch eine ISO-Norm (ISO 29942), aber der Zertifizierungsprozess ist aufwendig, teuer und zeitintensiv. Was also tun?
Die Lösung ist einfach, denn die Bürokratie ist Dein Freund. Den ganzen Papierkram liest ohnehin keiner, also schreiben wir es einfach in eines der anderen Produkte als „Variante“ mit rein! Genial, oder? Wir haben also jetzt eine Variation of female condom, with space for the tongue in the center and two elastic bands to fix as mouth cover […] for the prevention and protection of contact diseases in oral sex practices. Voilà. Stellt Euch das mal vor… Ein Frauenkondom. Ein flaches natürlich, es ist ja ein dam. Mit Platz für die Zunge in der Mitte. Das man mit zwei Ohrenbändchen über den Mund ziehen kann (erinnert sich noch jemand an die Corona-Masken?). Zack, CE-Zeichen auf die Packung – die (echten) Frauenkondome sind ja ordentlich geprüft und zertifiziert, falls wirklich mal jemand nachfragt -, und ab in den europäischen Markt.

Egal. Merkt ja keiner.

Gefühlt echt. Oder so.

Der Krieg hat begonnen.
Scan von Billy Boy Viel Gefühl 10erNein, nicht der in der Ukraine, der läuft schon länger. Ich meine den gefühlsechten Krieg zwischen Billy Boy und Durex. Also den Krieg darum, welches gefühlsechte Kondom nun das gefühlsechteste ist. Ihr kennt das ja – „Durex Gefühlsecht“ (später dann umbekannt in „Gefühlsecht Classic“). Dann toppte Durex sich selbst mit „Gefühlsecht ultra“, also einem ultra gefühlsechten Kondom („für noch mehr Gefühl im Vergleich zu unserem Gefühlsecht Classic Kondom“, was es in gefühlt -zig (natürlich gefühlsechten) Varianten gibt (von XXL bis ganz schlimm slim). So weit, so gefühlig.
Aber jetzt kommt der Herausforderer Billy Boy und wirft sein „echt gefühlsechtes“ „Viel Gefühl“-Kondom auf den Markt. Das kann man doch gar nicht mehr toppen, oder? Zweimal „Gefühl“ und zweimal „echt“ in nur 4 Worten.

Ich dand es ja schon immer seltsam, dass Kondome überhaupt „gefühlsecht“ sein können. Das ist ja semantisch das Gleiche wie „geschmacksechtes Bonbonpapier“. Und natürlich haben gefühlsechte Kondome (egal ob nur ultra oder echt gefühlsecht) nichts mit echten Gefühlen zu tun – schon weil alle Gefühle echt sind, egal was man fühlt. Wenn man was fühlt. Aber man soll ja (fast) nichts fühlen, wenn man gefühlsechte Kondome fühlt füllt verwendet, also sind Gefühle nichts? Ist nichts echt? Oder ist es nur echt nichts? Ich fühle mich da echt verwirrt.

Was Kondome angeht, bevorzuge ich schlicht dünne Kondome. Also ganz dünne. Oder sehr dünne. Extra dünne. Super dünne. Ultra dünne! Echt dünne!! Aaargh….

(Latex-)Kondome sind kein Plastik.

Latex-Kondome bestehen aus Latex. Latex ist pflanzlich. Latex ist grundsätzlich natürlich abbaubar (auch wenn es – wie man gerne bei Bedarf auf dem heimischen Komposthaufen studieren kann – recht lange dauert, bis es sich zersetzt hat; was aber auch irgendwie logisch ist, denn schließlich wurde da Material ja vorher extra bearbeitet, damit es lange hält…). Also geht mir bei solchen Texten das Messer in der Tasche auf:

Der erste beschriebene Plastikmüll im Meer waren Millionen benutzter Kondome […] Ein erster Bericht von Plastik im Ozean stammt vom britischen Autor Aldous Huxley (1894–1963), der am Strand von Santa Monica (USA) weisse Objekte wie tote Raupen entdeckte – Millionen benutzter Kondome aus dem Abflussrohr von Los Angeles.

So geschrieben von Daniel Arnet auf Blick.ch (Archiv) in einer Rezension zu Roman Kösters Buch «Müll».
Die Episode ist überliefert in Huxleys „Like Hyperion to a Satyr“ (1956) und bezieht sich auf einen Strandspaziergang, den er 1939 zusammen mit Thomas Mann und zwei Damen unternahm („the scale was American, the figures astronomical. Ten million saw I at a glance. Ten million emblems and mementoes of Modern Love“), wobei die Zahl der Kondome sicher nicht zu buchstäblich genommen werden sollte; ich glaube nicht, dass es einem Menschen möglich ist, eine Menge von angenommenen 10 Millionen Kondomen sicher auf einen Blick zu bestimmen – aber ja, es waren sicher sehr viele, und schön war es nicht. Aber es war kein Plastik (was Huxley auch nirgends behauptet hatte). Einen interessanten Bericht über das „verantwortliche“ Klärwerk (Hyperion sewage treatment plant) gibt es von Sarah Priscilla Randle in The Awl (Archiv), wo diese Episode auch erwähnt wird. Ein paar Jahre später spuckte das Klärwerk übrigens keinerlei Kondome mehr aus, was auch Huxley entsprechend und freudig bewegt notierte.
Nochmal: Kein Plastik. Und die 1939er Kondome dürfen binnen kurzer Zeit vom Seewasser zerfressen worden sein. Genau wie ihr Inhalt.
Nichtsdestotrotz hält sich hartnäckig irgendwo in deutschen Beamtenschädeln die Meinung, Latex (Gummi) wäre Plastik. Anders ist es nicht zu erklären, dass Luftballons(!) explizit und namentlich bei den demnächst zusätzlich mit einer Einwegkunststoffabgabe zu belastenden Artikeln aufgeführt werden (Anlage 1 des Einwegkunststofffondsgesetzes, siehe hier) – neben Plastiktüten, Zigarettenfiltern, Feuchttüchern, Getränkebehältern und anderem (aber ich will nicht meckern; Kondome stehen nicht drin, auch wenn sie materialtechnisch fast das gleiche sind wie Luftballons). Ausgenommen sind übrigens „Luftballons für industrielle oder gewerbliche Verwendungszwecke und Anwendungen, die nicht an Verbraucher abgegeben werden“, was ja komplett logisch ist, weil daraus ja nie und nimmer Müll wird…
Kondome aus Plastik – nämlich Polyurethan – wurden übrigens erst viele Jahre nach Huxleys Spaziergang erfunden. Als es schon weitaus bessere Klärwerke gab.

Langlebig und leicht zu reinigen

Johoho, und ’ne Buddel voll Rum – dabei ist doch erst morgen Silvester. Aber bei so was muss ich meine aufkeimende Aggressivität dann doch mit etwas stärkerem bekämpfen:

Die Durex-Love-Collection ist also langlebig und leicht zu reinigen!? Gut, was das langlebig angeht – 31 Kondome können theoretisch schon ein paar Jahre reichen (oder aber auch nur ein paar Tage, hmnja) – mag ich mich ja noch anschließen, aber „leicht zu reinigen“?
Meine erste Reaktion auf diese Meldung in meinem Google Alert war nach einem kurzen Blick auf das Snippet „Ey, Durex, habt Ihr einen unwissenden Praktikanten auf Euren Shop losgelassen!?“, aber dann musste ich feststellen, dass da zwar „Durex-Shop“ steht, der Link aber mitnichten zu Durex geht; die können also nichts dafür. Der Link geht zu einem seltsamen „Shop“ ohne Impressum mit teil französischen Texten (zu AGB, Rückgabe und Datenschutz), die sich auf ganz andere Domains beziehen und in denen nirgends Angaben zum Betreiber zu finden sind. Es gibt auch keine Widerrufsbedingungen nach geltendem Standard, und Zahlungen nur im Voraus. Da sollten alle Alarmglocken klingeln. Die URL ist www.condomsselling.com (und nein, ich verlinke das hier nicht); wer sich das also antun will, ist gewarnt.